Das Prag von alten Fotos

Künstler und Galerist Tilman Rothermel über das alte Prag und viele Konsonanten

Tilman Rothermel - selbst mit Ei
Tilman Rothermel

Hallo Tilman, vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Wir steigen ein mit ein paar Infos zu deiner Person. Was magst du uns über dich verraten?

Ich bin bildender Künstler, komme gebürtig aus Stuttgart und lebe seit 40 Jahren in Bremen. Ich bin das, was man den klassischen Mischtechniker nennt, ich verwende gern verschiedene Materialien an einem Bild und habe dabei schon so ziemlich alles ausprobiert, von Bleistiftkohle bis Aquarell, Acryl und Ölfarbe. 1976 habe ich meine Frau, Libuše Černá,kennengelernt. Ich betreibe in Bremen die Galerie am Schwarzen Meer und bin Mitglied im Bremer Bündnis für deutsch-tschechische Zusammenarbeit. Dadurch bin ich auch an verschiedenen Bremer Festivals mit beteiligt, zum Beispiel an „So macht man Frühling“.

Ich glaube, jetzt sind wir alle neugierig auf eure Kennenlern-Geschichte. Magst du etwas davon hier teilen?

Ja, gerne. Dafür muss ich aber etwas eher ansetzen. Meine erste Reise nach Tschechien, damals noch Tschechoslowakei, habe ich im Jahr 1967 gemacht. Ich war damals mit einer israelischen Tänzerin bekannt. Sie hatte ein Engagement in Prag und hat mich gefragt, ob ich ein Bühnenbild für sie malen würde – und zwar vor Ort. Wir sind also nach Prag gereist. Ich bin im Dezember angekommen, die Stadt war irgendwie düster, die Atmosphäre war ganz besonders, mysteriös. Das war tatsächlich das Prag, das man von alten Fotos kennt. Auf der Karlsbrücke lag Schnee und es war kein einziger Mensch darauf. Dieses Prag gibt es heute gar nicht mehr.

1967 – also die Zeit des Prager Frühlings

Genau, das lag damals richtig in der Luft, das war so eine Aufbruchstimmung, die fand ich großartig. Alle, mit denen ich damals zu tun hatte, in meiner Blase, wie man heute wohl sagen würde, fanden es vielversprechend. Ich bin ein alter 68er und die Idee eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz klang für uns richtig gut. Wir hatten die Hoffnung, dass sich wirklich etwas ändert. Und dass man dieses Modell vielleicht auch auf den Wesen übertragen könnte.

Und dann kam das Jahr ´68…

Oh ja, ich weiß noch genau, wie ich damals davon erfahren habe, dass der Warschauer Pakt in Prag einmarschiert ist. Ich stand in Stuttgart an einer Bushaltestelle. Woher genau die Nachricht kam, Zeitung, Flugblatt, Radio, das weiß ich nicht mehr. Aber ich stand unter Schock. Das ganze Experiment sollte auf einmal zu Ende sein. Vorher hatte ich ernsthaft überlegt, ob ich dorthin auswandern soll.

Aber losgelassen hat das Land dich nicht …

Ja, die Kennenlern-Story kommt schon noch (lacht). Also: Ich hatte damals einen Freund in Brüssel, der ab und zu nach Prag gefahren ist. Ich habe in Frankfurt gewohnt und er hat dann immer bei mir Station gemacht, um die lange Strecke in zwei Etappen zu teilen. Bei einer Rückreise fragte er mich dann, ob es okay wäre, wenn er jemanden mitbringt. Er habe eine junge Tschechin im Auto, die sei auf dem Weg nach Frankreich und tja, das war dann die Libuše. Unsere erste Begegnung war also ein ziemlicher Zufall – und irgendwie auch nicht, denn bei mir gibt es ja auch diese „tschechische“ Vorgeschichte. Wir haben uns dann noch mal in Frankreich getroffen, haben gemeinsam mit einer Studentengruppe einen Urlaub in der Dordogne verbracht. Und irgendwie dachten wir dann: Das war´s. Die Sache war aber für uns beide nicht erledigt. Emigrieren wollte Libuše nicht, das hätte ihr viele Möglichkeiten verbaut, sie wollte immer die Option haben, ins Land zurückzukehren. Also sprachen wir übers Heiraten.  Das haben wir 1977 getan. Ich sage immer, wir kannten uns da gerade mal sechs Wochen. Insgesamt waren es zwar acht Monate, aber die tatsächlich gemeinsam verbrachte Zeit kommt auf knapp sechs Wochen und viele, viele besondere Momente. Dass wir uns noch nicht so lange kannten, haben wir auch pragmatisch betrachtet. Wir haben uns einfach gesagt: Entweder es funktioniert – oder es funktioniert nicht.

Und funktioniert hat es offensichtlich. Auf meinem Zettel steht jetzt die Frage nach deiner Verbindung zu Tschechien, aber sie haben wir ja hinreichend und auf mehreren Ebenen geklärt, oder?  

Ja, ich denke auch. Nächste Frage bitte. (lacht)

Wann warst du zuletzt in Tschechien – und was war der Anlass?

Wir reisen sehr oft nach Tschechien. Wir haben dort seit 15 Jahren ein Haus, unser Sohn lebt in Prag, den besuchen wir häufig. Drei bis vier Mal im Jahr sind wir mindestens dort. Tschechien ist für mich eine zweite Heimat. Wir haben auch schon mit dem Gedanken gespielt, ganz nach Tschechien umzuziehen. Das sind aber eher Gedankenspiele, wir reden davon, dass es theoretisch möglich sein könnte. Ich habe hier mein Atelier, das könnte ich in Tschechien so nicht weiterführen. Wir sind auch durch die Kulturarbeit sehr mit Bremen verbunden. Und wenn ich ganz ehrlich bin: Eigentlich will ich hier gar nicht weg.

Was ist deiner Meinung nach typisch deutsch, was ist typisch tschechisch? Und was sind Gemeinsamkeiten?

Diese Frage finde ich schwierig, das birgt natürlich die Gefahr von Klischees. Ich habe dazu eher Bilder im Kopf. Ich kam damals nach Tschechien – und überall liefen Leute in Trainingsanzügen herum. Die Frauen waren – schon damals – hoch modisch gekleidet, die Männer dagegen, sagen wir mal, außerordentlich leger, auch mit Löchern in den Hosen. Ich fand das aber  sympathisch, es war ein Eindruck davon, dass alles nicht so ernst genommen wird. Mir sind auch Menschen in Arbeiterkluft aufgefallen, die um 11 Uhr morgens schon in der Kneipe standen. Das hat für mich aber nichts davon, die Dinge schleifen zu lassen, sondern dass die Leute das durften, dass es einfach möglich war. Dass es nicht darum ging, immer korrekt zu sein und vor dem Chef strammstehen zu müssen.

„Das Deutsche“ gibt es meiner Meinung nach so gar nicht mehr, wir sind inzwischen eine ganz andere Gesellschaft geworden. Ich glaube, das ist für einige nicht einfach, es bringt für manche den gefühlten Verlust der Identität mit sich. Ich dagegen finde den Gedanken an „das Deutsche“, was immer das sein soll, tatsächlich etwas absurd.  

Das Verbindende: Gibt es etwas, das Menschen aus Tschechien und Deutschland voneinander lernen können?

Wie heißt dieser Spruch doch gleich: Perfekt geplant oder genial improvisiert? Ich finde, die Fähigkeit zur Improvisation könnten sich die Menschen in Deutschland schon etwas abschauen. In Tschechien läuft vieles unbeschwerter, in Deutschland muss alles von 27 Behörden genehmigt werden. Die Angst vor der Obrigkeit ist in Tschechien auch nicht so groß. Es gibt zwar Regeln. Die sind eben da. Man kann sich daran halten – oder auch nicht.   

Such dir bitte eine der beiden Sprachen aus, Deutsch oder Tschechisch. Was ist dein Lieblingswort?

Das ist, als würdest du mich nach meinem Lieblingsmaler fragen, da gäbe es auch mehr als eine Antwort. Ich sage es mal so: Ich staune immer wieder über die Eigenheit der tschechischen Sprache, sehr viele Konsonanten aneinander zu reihen. Da sitze ich manchmal ratlos davor und denke: Wie geht das? Wie soll man das aussprechen? Vor allem: Wie kann man das überhaupt aussprechen? (lacht)

Ausblick für die Zukunft: Denkst du, beide Länder sollten noch mehr in den Austausch gehen, ihre Verbindung zueinander verstärken, auch im Sinne eines gemeinsamen europäischen Gedankens? Hast du einen Wunsch / eine Vision, wie das aussehen könnte?

Ja, unbedingt sollte es mehr in den Austausch gehen. Aus meiner Sicht ist es eine große Tragödie, dass es das „Böhmische“ so nicht mehr gibt, dieses tschechisch-deutsch-jüdische Miteinander, das sich gegenseitig inspiriert hat. Mir ist auch unverständlich, dass Tschechien da eher in die Abschottung geht. Wenn ich in Prag in eine Kunstausstellung gehe, dann sehe ich da zu 95 % tschechische Künstler. Sprachlich merkt man das auch: Ich kenne keine andere Sprache, in der das Wort „český“  (dt.: „tschechisch“) so häufig verwendet wird. Das finde ich schade und ich hoffe, dass da mehr Öffnung stattfindet. Die tschechische Kultur war vor dem Krieg und vielleicht auch noch danach viel „europäischer“, da muss man gar nicht nur an Kafka denken.

Vielen Dank für das Interview!

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