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Ina Karsten

Foto: Manja Herrmann

Ina Karsten wurde 1971 in Rudolstadt geboren. Sie absolvierte in der DDR eine Ausbildung zur Friseurin und entschied sich im Herbst 1989 als 18-Jährige gemeinsam mit einer Freundin spontan zu der Flucht in die bundesdeutsche Botschaft in Prag. In der Bundesrepublik erhoffte sie sich neue Entfaltungsmöglichkeiten und Reisefreiheit. Ina und ihrer Freundin gelang es, sich Zutritt zur Botschaft zu verschaffen, obwohl diese wegen Überfüllung bereits geschlossen war. Nach ihrer Flucht wohnte sie eine Weile bei ihrem bereits offiziell ausgereisten Freund in Eibelshausen in Hessen, wo sie ebenfalls als Friseurin arbeitete. Ein Schicksalschlag in der Familie führte sie 1993 zurück nach Jena, wo sie ihr Fachabitur machte und dann Soziale Arbeit studierte. Heute wohnt Ina Karsten in Jena, ist Mutter von drei Kindern und arbeitet als Sozialarbeiterin.

Aus welchen Gründen hast du damals die DDR verlassen, was hattest du für Motive?

Ich war 18, hatte gerade meine Lehre fertig, habe Friseurin gelernt zu DDR-Zeiten und viele meiner Freunde und Freundinnen haben die DDR verlassen. Mein Freund auch und es war schon so eine Aufbruchstimmung. Also erstens ist man jugendlich, 18, man will was erleben und auf der anderen Seite [herrschte] auch der Umbruch. Man wollte reisen und irgendwas [erleben]. Und dann waren wir im Sommer in Ungarn mit meinen Freundinnen. Mit ein paar Mädels sind wir dahin gefahren und haben dort auch Westdeutsche kennengelernt und mit denen überlegt, vielleicht könnte man über Ungarn flüchten. Haben uns das auch angeguckt mit dem Auto, sind dahin gefahren einfach [um] zu [gucken]. Und haben uns das aber letztlich nicht getraut. Ich bin dann zurückgekommen und habe als Friseurin gearbeitet und hatte eine Freundin, [deren] Freund auch schon per Ausreise in den Westen gegangen ist. Und wir haben immer hin und her überlegt, was wir denn machen, wenn sich die Möglichkeit ergibt, dann flüchten wir auch. Und an dem Abend, [an dem] Genscher gesagt [hat], dass die Menschen aus der Botschaft raus dürfen, haben wir gesagt: Okay, wenn wieder welche in die Botschaft reingehen, dann sind wir auch dabei. 

Wie wurde in deinem Umfeld in der DDR über Flucht gesprochen? Nicht nur über ‘Republikflüchtlinge’, sondern auch über diese erste Gruppe, die in der Prager Botschaft war.

Wir fanden das schon cool mit 18, dass da welche so mutig waren. Wobei, [von] meinen Freundinnen von damals ist keine über die Botschaft geflohen. Da musste man schon gewissen Mut [zu] haben und den hätten die nicht gehabt. Wir sind wieder von Ungarn zurückgefahren, das hätten wir uns nicht getraut, da rüberzulaufen. Wir haben gar nicht so viel darüber gesprochen, glaube ich. Es ist gar nicht so viel darüber gesprochen worden. Ich war schon immer bisschen rebellisch [gewesen] und habe in dem Friseursalon ein Bild von Erich Honecker irgendwann einfach abgenommen und umgedreht, das hing hinten in unserem Aufenthaltsraum. [Es] war so eine gewisse Unruhe in der Stadt. Die Stadt war immer schon so ein bisschen unruhig. Aber es ist nicht so, dass wir zusammensaßen und über so etwas gesprochen haben. Das haben wir nicht. Aber es wurde immer [erzählt]: Ach Mensch, der ist jetzt auch weg und der ist schon weg und der ist weg, so wurde schon gesprochen. Aber nicht jetzt unbedingt wie und so detailliert. Mit 18 war das noch nicht so unser Thema.

Was hast du eigentlich für dich erwartet mit der Flucht in die Bundesrepublik, welche Hoffnungen und Erwartungen hattest du?

Ich war 18, hatte gerade meine Friseurlehre fertig und habe gedacht, was kostet die Welt. Ich kann hier nicht die ganze Zeit in Lobeda rumhängen. Ich bin in Lobeda aufgewachsen, wenn man das sieht, [das] ist so ein Neubaugebiet. Es war eine schöne Kindheit mit den ganzen Freundinnen im Haus und im Umfeld. Wir haben immer viel gemacht. Aber irgendwann habe ich gedacht, nein, es muss doch noch mehr geben, das kann es doch nicht sein. Und [du] kannst doch jetzt nicht immer nur mal nach Berlin und so. Und ich wollte einfach mehr sehen von der Welt und auch gucken, was gibt es noch. Das war so ein neugieriger Entdeckungsgeist, [welchen] andere 18-Jährige [auch haben], erst einmal reisen. Das war auch so. Ich war fertig, ich wollte jetzt irgendetwas Schönes, cooles für mich.

Hattest du beim Ankommen in der Botschaft bereits eine Art Gefühl in Freiheit zu sein, hattest du Vertrauen in die Bundesrepublik oder in die Vertreter der Bundesrepublik vor Ort?

Das hatte ich. Also ein Gefühl von Freiheit nicht, weil es so eng war, man hat keine Luft gekriegt. Es war echt knapp bemessen und ich habe auch verstanden, wieso die gesagt haben, es darf keiner mehr [in die Botschaft] rein. Ich konnte nur nicht verstehen, warum ich denn jetzt nicht rein darf. Ich hatte diesen ganzen Weg auf mich genommen, wollte das eben und habe dann in Kauf genommen, so zu stehen. Also mich mit reinzudrängeln. Und das war, kann man sich so vorstellen, wie wenn die Love Parade [stattfindet]. Wenn alles voll ist, man kam gar nicht mehr vor oder zurück. Es war wirklich alles voll.  Man saß einfach auf dem Boden auf der Tasche irgendwo herum. Das Wetter ging, ich habe nicht gefroren, daran kann ich mich nicht erinnern. Aber nach oben [hin war] der Himmel offen. Das war das Gefühl von Freiheit nach oben [hin], aber schon noch Enge, da muss noch irgendwas passieren. Und ich hatte Vertrauen, ja das hatte ich. Weiß auch nicht, warum. Wie gesagt, wir hatten nette Menschen in Ungarn kennengelernt, die gesagt haben macht das, kommt und das ist cool. Und ich hatte das im Radio gehört und habe irgendwie darauf vertraut.

Gab es einen Moment von ‘wir leisten gerade unseren Teil, die DDR zu Fall zu bringen’ bei der Ausreise? Hat es sich nach einem historischen Moment angefühlt, im Zug zum Beispiel?

Also für mich war es so, ich war ein junger Mensch und ich zeige denen jetzt, dass sie so die jungen Menschen nicht halten können. Dass da irgendwas passieren muss. Wir haben ja immer Staatsbürgerkundeunterricht gehabt und wussten, wir müssen nur das und das erzählen, um bestimmte Noten zu bekommen und haben uns da auch teilweise angepasst verhalten. Dann war ein Knick, dass ich nicht meine Friseurausbildung kriegen sollte, die ich eigentlich haben wollte. Und aus diesem Grund habe ich mich umgesehen, was ich noch lernen kann. Das gab es dann aber nicht. Zum Beispiel war nie vorgesehen, dass ich das Abitur hätte machen können. Ich habe dann Friseurin gelernt. Im Osten hätte ich mich damit abgefunden, aber dann habe ich gedacht: Das kannst du doch nicht ein Leben lang machen und so knechten und die behandeln dich hier… Dann musste irgendwas kommen und [ich] hatte auch Überlegungen, im Westen meinen Meister zu machen und Sachen, die vorher gar nicht möglich gewesen wären. Und wo ich auch sauer bin auf die DDR, dass die einem das schon nahe gelegt hatten. Man hat dann einmal einen Beruf gelernt und den sollte man dann bis zur Rente machen. Also das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen mit 18, das ging gar nicht. 

Wenn du jetzt zurückblickst auf die Entscheidung, wie beurteilst du diesen Moment rückblickend für dich?

Damit hatte ich schon länger abgeschlossen. Ich habe das zwar ad hoc entschieden, am nächsten Tag zu fahren, aber das ist gereift durch viele, viele Sachen, die vorher passiert sind. Es war wie ein kleines Pflänzchen, das Wurzeln gekriegt hat und zum Baum wurde und dann war irgendwann eine Frucht da und es war soweit. Dann ist man ausgeflogen. Und von daher war das logisch. Es war eine Schlussfolgerung aus diesem Ganzen, es gab für mich kein Zurück mehr. Dann hätte vorher schon was anders laufen müssen. Man hat eigentlich [nur] nach dem Moment gesucht, wo sich so eine Lücke findet. 

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